Mein Kind spielt einfach nicht…

Vor kurzem wurde ich Zuhörerin einer Unterhaltung von zwei Müttern. Sie tauschten sich darüber aus wie anstrengend es momentan mit ihren Kindern sei. Sie würden sie aus der Kita holen und dann ginge es direkt los: „Mama, mir ist langweilig!“ „Das macht mich wahnsinnig“, klagte die eine Mutter, „kaum sind wir zur Haustüre rein, weiß sie nichts mehr mit sich anzufangen. Ständig quengelt sie an mir herum und bittet mich mit ihr zu spielen oder etwas zu unternehmen. Dabei hat sie solch tolle Spielsachen! Hätte ich als Kind diese Möglichkeiten gehabt, ich wäre so glücklich gewesen!“ Die andere Mutter pflichtet ihr bei. „Bei uns ist das Problem, wenn ihm langweilig ist und ich mich nicht mit ihm beschäftige, beginnt er irgendwas kaputt zu machen, ärgert seine Geschwister oder bekommt einen Wutanfall.“ Beide sind sich einig: sie als Kinder haben einfach gespielt und fragen sich, warum ihre Kinder sich so anders verhalten.

Mit dieser Situation sind die beiden Mütter ganz und gar nicht alleine. Auf unserem Blog haben wir schon mehrfach übers Spielen geschrieben. Auch in Beratungsgespächen ist dies ein sehr häufiges Thema, vermutlich weil es so viele andere Aspekte wie persönliche Grenzen, Empathie, Begleitung von Gefühlen, die eigenen Vorstellungen von guten Müttern und Vätern sowie glücklichen Kindern usw. berührt. Aus dem Grund wollen wir das Thema Spielen und vor allem die Fragen, was man als Eltern tun kann, um seinen Kindern ein freies Spiel zu ermöglichen, in diesem Artikel nochmal aufgreifen.

Das kindliches Spiel

Über das Wesen des kindlichen Spieles und dessen elementare Bedeutung für die Entwicklung eines Kindes ließe sich jetzt unheimlich viel sagen. Auch darüber wie für Kinder Spielen und Lernen untrennbar miteinander verbunden sind. Oder gar über die Tatsache, dass Kinder sich mithilfe ihres Spieles versuchen selbst emotional wieder ins Gleichgewicht zu bringen und sogar von traumatischen Erlebnissen zu regenerieren. Über all dies ließe sich ausführlich schreiben und es bliebe wohl trotzdem noch vieles unberücksichtigt. Daher wollen wir gar nicht versuchen dieses Phänomen „Spiel“ hier zu erfassen, sondern uns einen eindrücklichen Punkt auswählen. In unserem Artikel „Zeit zu gesunden“ haben wir bereits einen kurzen Blick auf die Salutogenese geworfen. Bei ihr geht es darum wie wir gesund werden oder noch besser gesund bleiben können. Der US-amerikanische Arzt Aaron Antonovsky identifizierte drei Säulen der Salutogenese, die es uns ermöglichen uns selbst körperlich und seelisch zu „reparieren“. Interessanterweise sind exakt diese drei Säulen die Basis des kindlichen Spieles:

  1. Verstehbarkeit deiner Welt in deinen Augen
  2. Gestaltbarkeit deiner Welt in deinen Augen
  3. Sinnhaftigkeit deiner Welt in deinen Augen

Genau das erfahren Kinder, wenn sie spielen. Als mir dieser Zusammenhang deutlich wurde, erschloss sich mir einmal mehr die Genialität ihres Verhaltens und auch des Spieles an sich. Wenn Kinder spielen, bringen sie sich emotional und auch körperlich wieder mehr ins Gleichgewicht und „reparieren“ sich. Sie entwickeln und erproben neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen und währenddessen lernen sie ununterbrochen.

Diese Erkenntnisse bringen mich zu der Überzeugung, dass das Spiel von Kindern schützenswert und unheimlich wichtig ist. Die Wertung, dass Arbeit wertvoll sei und Spielen ein Zeitvertreib kann bei einer solchen Betrachtungsweise des Spieles nicht aufrecht erhalten werden. Und letztlich nährt es meinen Wunsch, dass die Begeisterung mit der Kinder spielen und sich in dieses Spiel vertiefen, ihnen erhalten bleiben möge und sie so kreative, innovative Erwachsene werden, die beruflich immernoch „spielen“: der eine mit Zahlen, der andre mit Worten, die eine mit Gefühlen, die andere mit Holz etc.

Aufgrund dieser Tatsache, ist es umso bedauerlicher, wenn Kinder kaum noch die Möglichkeit zum freien Spielen haben oder, wie oben in dem Beispiel, der Zugang zu dieser ihnen angeborenen Fähigkeit irgendwie verstellt ist. Daher wollen wir im folgenden ein paar Punkte betrachten, die Kinder unterstützen können, wieder in ihre „Bestimmung“ zu finden, in der es eigentlich alles zu entdecken gibt.

Unterstützung des kindlichen Spiels:

1.Zeit

Um sich in ein Spiel vertiefen zu können, benötigen Kinder weder die neuesten Spielsachen noch die besten Fördermaterialien für ihre Entwicklung, sondern zunächst mal lediglich eines und das ist Zeit. Freie Zeit, ohne Termindruck, ohne Vorgaben. Ich vergleiche diese Zeit oft mit einem Blatt, was man den Kindern zur Verfügung stellt. Sie dürfen damit tun und lassen, was sie wollen. Kein Ausmalbild mit vorgezeichneten Linien und einem Ergebnis, was am Ende zu sehen sein soll. Dieses Blatt kann alles werden, ob irgendwann bunt, ein Papierflieger, ein Schneegestöber, ein zerknüllter Ausdruck meiner Wut oder, oder, oder… Ebenso sollten Kinder Zeit zur Verfügung haben, die sie frei gestalten dürfen. Wir Erwachsenen haben oft einen vollen Terminkalender und leider macht das vor unseren Kindern auch nicht halt. So ist die Erfahrung, über die sich die beiden Mütter in dem Beispiel Eingangs auch noch unterhielten, vielen Kindern heute oft verwehrt. Sie erzählen nämlich in dem weiteren Verlauf ihres Gesprächs von freien Nachmittagen als die Hausaufgaben um 14:30 Uhr erledigt waren und man sich danach (wohlgemerkt auf dem Dorf) mit den Nachbarskindern auf „der Straße“ traf und den Nachmittag gemeinsam gestaltete. Sie erzählen wie sie mit ihren Freundinnen gemeinsam Buden bauten oder ihre imaginären Pferde ausritten. Sicher idealisiert man vieles im Nachhinein und auch „damals“ gab es einiges, was nicht optimal war. Betrachtet man jedoch den Aspekt der freien Zeit, der Kindern zum Spielen zur Verfügung steht, lässt sich beobachten, dass diese in den letzten Jahrzehnten geringer geworden ist. Tritt man dem kindlichen Spiel mit Respekt gegenüber und achtet dessen Wichtigkeit und auch Ernsthaftigkeit, wird deutlich wie essentiell es ist, diese Zeit frei zu halten und seinem Kind zur Verfügung zu stellen.

Tut man dies, erleben viele Eltern aber oft folgendes: Um nochmal das Beispiel aufzugreifen, geben sie ihren Kindern das freie Blatt. Das Kind ist irritiert. Es weiß nichts so recht mit dem Blatt anzufangen. Es gibt keine Aufgabe, wie dieses Blatt zu gebrauchen ist. Auch weiß es nicht wie lange es sich nun mit diesem Blatt beschäftigen soll. Es scheint langweilig und uninteressant – was soll man mit einem leeren Blatt denn anfangen? Das Blatt ist „doof“, die Mama ist „doof“, überhaupt ist es langweilig und das Kind will jetzt endlich etwas wirklich Interessantes tun. Damit wären wir beim nächsten wichtigen Punkt angelangt:

2. Langeweile aushalten

Auch über Langeweile haben wir bereits einen Artikel geschrieben, in dem es darum geht wie wesentlich Langeweile ist. Wenn wir uns das Beispiel der beiden Mütter nun nochmal anschauen, würde ich vermuten, dass die Tochter zunächst „überstimuliert“ ist. Sie ist von ihrem Kindergartentag vielleicht müde, eventuell auch hungrig und voll von den Eindrücken des Tages. Sie befindet sich auf einem hohen Erregungsniveau. Bei Erwachsenen ist das übrigens ganz ähnlich. Wenn man eine zeitlang viel aufgenommen hat, ist es manchmal gar nicht zu einfach wieder zur Ruhe und bei sich selbst anzukommen. Sehr verlockend ist es dann zu versuchen dieses Energieniveau weiter aufrechtzuerhalten. Das klappt auch einige Zeit, endet dann aber oft in einer größeren Erschöpfungsphase. Das Erregungsniveau herunterzufahren, sich wieder mehr zu spüren, bei sich anzukommen etc. ist oft auch mit Gefühlen verbunden, die die Mehrheit der Menschen (und eben auch Kinder) zunächst versucht zu vermeiden. Da melden sich dann nämlich Erschöpfung, Schwäche, Trauer, Leere usw.. Erwachsene sprechen manchmal davon, dass man „absackt“ oder einfach „völlig fertig“ ist. Der Versuch des Mädchens könnte es also sein, dass es dieses „Absacken“ fürchtet bzw. dabei Begleitung und Regulierung eines Erwachsenen bedarf. Durch Aufforderungen der Mutter, sie doch weiter „anzuregen“ und ihr Erregungsniveau hoch zu halten, käme sie um diesen Prozess herum. Für die Mutter ist dies natürlich auch keine einfache Situation. Sie kommt vielleicht selbst gestresst von der Arbeit oder hatte einen anstrengenden Morgen. Nun wäre sie dankbar, wenn sie erstmal ankommen könnte. Da ist die „Verlockung“ groß dem Wunsch des Kindes nachzukommen und ihm eine neue Attraktion zu bieten. Nicht selten schleicht sich dann hier ein Kreislauf ein und die Kinder wollen ständig von ihren Eltern weiter „angeregt“ werden – im Grund auch eine Regulation der Eltern, die aber nicht zu einer Entspannung und einem entspannten Miteinander führen wird. Verhält sich die Mutter allerdings anders, dann scheint es fast als würde sie ihre Tochter auf „Entzug“ setzen. Sie entzieht ihr bzw. bietet ihr keine weiter „Anregung“ mehr – kein neues Spielzeug, kein attraktives Spielangebot, keine Medien etc.. Dann wird sie ihre Tochter vermutlich auch begleiten und regulieren müssen, allerdings schätzungsweise bei einer Art Wutanfall. In diesem kann sich dann alles Angestaute entleeren und die Kleine kommt wieder zu sich. Diese Co-Regulation der Mutter wird allerdings die Bindung der beiden stärken, dem Mädchen helfen wieder in sich zu ruhen und dann sehr wahrscheinlich eine kreative Spielidee zur Folge haben.

Der Junge in dem Beispiel hat vermutlich genau dasselbe „Problem“ nur hat er eine andere Strategie. Er „quengelt“ nicht, wie es die Mutter des Mädchens beschreibt, sondern er macht Dinge kaputt und ärgert seine Geschwister. Er sucht ein Gegenüber und versucht seine Frustration und Wut für seine Mutter spürbar zu machen (und ich vermute, dass er nicht allzu lange braucht bis seine Wut auch bei der Mutter angekommen ist). Auch hier bedarf es einer präsenten Co-Regulation anstatt eines neuen Spiel- oder Beschäftigungsangebotes von Seiten eines Erwachsenen.

Ich glaube mit der eigenen Wertschätzung für das kindliche Spiel, Zeit für ebendieses sowie Verzicht auf weitere „Beschäftigungsangebote“ schafft man hilfreiche Rahmenbedingungen fürs spielen. Weitere Rahmenbedingungen sind auch in diesem Artikel nachzulesen.

Noch eine letzter kurzer Schwenk zu der Frage, inwieweit Eltern mit ihren Kindern spielen sollten. Heute war meine Freundin zu Besuch. Sie ist Steuerberaterin und wenn sie mir von ihrer aktuellen Fortbildung erzählt und womit sie dort den ganzen Tag „spielt“ (denn sie tut es tatsächlich mit Freude und Begeisterung), verstehe ich nur die Hälfte oder sogar weniger. Normalerweise würde ich mich auch überhaupt nicht dafür interessieren, ja, es gäbe wenig, was ich uninteressanter fände. Doch wenn ich bei ihr nachfrage, wie es für sie grade in dieser Fortbildung so ist, dann will ich Anteil nehmen an dem, was sie grade begeistert und was sie herausfordert. Es geht mir um sie. Ich will ihr zeigen, dass sie mir wichtig ist und ich tue dies eben auch, indem ich mich für das interessiere, was sie grade interessiert. Wenn Fritz mir seine Feuerwehrautos präsentiert und wir gemeinsam ein Auto abschleppen, dann erfüllt ihn ein Glücksgefühl, welches mich dann oft ansteckt (und das nicht wegen des Abschleppens an sich, sondern seiner Freude über unser gemeinsames Spiel). Spielen stärkt Beziehung und fördert die Bindung. Es ist eine Ehre mitspielen zu dürfen. Gleichzeitig bin ich sicher, dass meine Freundin auch merken würde, wenn ich sie nach ihrer Fortbildung fragen und mir ihre Ausführungen dann innerlich abwesend anhören würde. Das würde unserer Beziehung nicht dienen – im Gegenteil. Vermutlich würde es bald sehr still werden zwischen uns, weil sich die Frage einschleichen würde, ob wir uns wirklich füreinander interessieren. Auch bei Fritz wäre es ähnlich, wenn ich mich auf seine Spielanfrage einlasse, weil ich denke ich „müsste“ dies als „gute Mutter“ tun, ich mir einen Wutanfall ersparen will oder irgendwelche anderen nicht authentischen Motive habe, die mich zu einem Ja „zwingen“. Es würde unsere Beziehung nicht guttun und unsere Bindung würde davon nicht stabiler werden – eher im Gegenteil. Daher glaube ich, dass in dieser Frage Präsenz, Achtsamkeit und Authentizität sehr wichtig sind. Wenn ich von Herzen Ja sagen kann, was spräche dann dagegen mitzuspielen. Es wird vermutlich für Elternteil wie Kind eine beglückende Bindungserfahrung werden. Die Motivation „ich interessiere mich für dich und will mich ganz auf dich einlassen“ wird beim Kind ankommen und die Beziehung stärken. Sollte ich jedoch merken, dass ich mich zu einem halbherzigen Ja durchringe, ist es wohl besser ein authentisches Nein zu formulieren und sich zunächst um das zu kümmern, was man selbst grade benötigt. Vielleicht sind zu einem anderen Zeitpunkt die Kapazitäten für ein authentisches Ja vorhanden…

Wer noch tiefer in dieses Thema einsteigen will, dem seien nochmal die verlinkten Artikel sowie das Buch von Andres Stern „Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben“ empfohlen.

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