Ich spiel mich gesund

Diese Woche wurde ich einmal neu Zeugin eines wunderbaren, kindlichen Versuchs der Selbstheilung. Diese Situation hat mich sehr berührt und ich staune immer wieder neu über das Streben unseres gesamten Wesens nach Heilung und Wiederherstellung. Als sei es ganz tief in uns angelegt – ja, man könnte fast meinen als sei es unsere Bestimmung – suchen wir ganz unbewusst Situationen, Begegnungen und Beziehungen, die etwas potentiell Heilsames in sich tragen. Oft erschließt sich dieses Heilsame nicht auf den ersten Blick, sondern scheint wieder eine erneute „negative“ Erfahrung zu sein. Doch bei genauerer Betrachtung entdeckt man wünschenswerter Weise die Chance diesmal eine neue Erfahrung machen zu können.

Nun gut… nochmal zurück zu meiner kleinen Lehrmeisterin in dieser Disziplin.

Ich hatte Besuch von meiner Freundin und ihrer Tochter. Eigentlich wollten wir ein wenig miteinander Kaffee trinken und die Kinder zog es zum kühlen Nass in unserem Pool. Zunächst schien es sich auch alles so zu ereignen, bis ihre Tochter plötzlich die Gunst der Stunde nutzte, um etwas für ihre Seele zu tun. Vor einigen Monaten war bei ihr in einem „zufälligen“ Befund eine Bluterkrankung festgestellt worden. Daraufhin musste sie ins Krankenhaus und sich zahlreichen Untersuchungen stellen. Es war nicht ganz einfach die richtigen Medikamente zu finden und vor allem die für sie angemessene Dosierung. So dauerte es einige Zeit, bis sie wieder einigermaßen bei Kräften war und in ihren mehr oder weniger neuen Alltag zurückfinden konnte. An diesem Nachmittag entdeckte sie beim Baden eine kleine Wasserspritzpistole mit der sie zunächst begann die Beine ihrer Mama abzukühlen. Als öffnete sich eine Schleuse verwandelte sie die Abkühlung kurzerhand in ein Rollenspiel. Plötzlich war ihre Mutter sehr krank. Sie brauchte mehrere Spritzen, ja, unheimlich viele Spritzen gegen alle möglichen Erkrankungen. Dann wurden ihre Blutwerte zusehends schlechter. Bisher hatte die Tochter meiner Freundin noch wenig über ihre Erfahrungen im Krankenhaus gesprochen und war stets sehr „tapfer“ gewesen. So freuten wir uns über ihre Bereitschaft sich diesem, für sie großen Thema heute zu nähern. Ich gab ihrer Mutter ein Zeichen, dass sie weiter mitspielen sollte und stieg auch selbst mit ins Spiel ein, indem ich kurzerhand zur Kollegin wurde, mit der sie alle weiteren Behandlungen ihrer Patientin telefonisch durchsprach. Sie war völlig beschäftigt mit Spritzen, Blut abnehmen, Analysen der Werte, Herstellen von Medizin usw.. Man konnte förmlich dabei zusehen wie sich ihre Seele ihren ganzen Erfahrungen diesbezüglich nun spielerisch zu nähern begann. Nachdem sie das ganze Dilemma der erkrankten Patientin durchgespielt hatte, begann sie Lösungen dafür zu suchen, dass die Patientin zusätzlich einsam und traurig war. Sie überlegte sich – stets in Absprache mit mir als Kollegin – was ihr ein Gefühl von Geborgenheit geben würde und was die Patientin gerne mochte. Schließlich beendete sie das Spiel und wendete sich wieder Lotti zu. Diese hatte sich – fast so als würde sie die Dringlichkeit und „Heiligkeit“ dieses Spieles spüren – zurückgezogen. Das war heute nicht ihr Thema. Berührt von der Intensität dieses Spieles und dem geschenkten Vertrauen ihr Innerstes für einen Moment mit uns zu teilen, saßen meine Freundin und ich noch eine Weile schweigend da.

All die Wochen hatten Worte und andere Versuche nicht das bewirkt, wovon wir grade Zeuginnen geworden waren: eine Öffnung der Seele, eine Suche nach Verarbeitung, der Wunsch sich wieder „gesund“ zu spielen und all das Erlebte zu integrieren.

Dieses Erlebnis ließ mich auch die nächsten Tage nicht los. Vermutlich, weil ich auch wusste wie sehr diese Krankenhaus- und Krankheitserfahrung sowohl meine Freundin als auch ihre Tochter belastet hatten und es immernoch taten. Nun hatte ihre Tochter selbst einen Weg vorgeben. Ich bin gespannt, welche Schritte sie weiter vorschlagen wird und bin sicher, dass ihre Mutter bereit ist diese mit ihr zu gehen.

Nachdem Lotti und die Tochter meiner Freundin sich in Lottis Zimmer zurückzogen, schaute mich meine Freundin an und stellte eine entscheidende Frage: Was war das? Was war hier grade passiert? Wir sprachen noch eine Weil und da dieses Erlebnis für mich so eindrücklich war, haben wir beschlossen dieser Frage meiner Freundin einen Artikel zu widmen.

Welche große Bedeutung dem kindlichen Spiel beizumessen ist, haben wir bereits in mehrere Artikeln beschrieben (Rahmenbedingungen für kindliches Spiel, bindungsorientierte Spiele, Mein Kind spielt einfach nicht). Heute wollen wir unseren Fokus auf den Versuch von Kindern lenken, sich durch ihr Spiel selbst zu „reparieren“ und wie wir sie als Beteiligte dabei unterstützen können.

Wie schon oft auf unserem Blog erwähnt sollten wir dem kindlichen, freien Spiel unseren tiefen Respekt, Achtung und Wertschätzung entgegenbringen. Anstatt Spielen und Lernen oder Spaß und Ernst des Lebens zu trennen, dürfen wir uns von den Kindern einladen lassen, diese Trennung hinter uns zu lassen und wieder zu der ursprünglichen Einheit zurückzukehren. Das bedeutet natürlich auch, dass wir das Spiel eines Kindes nicht bewerten. Sicher geht es darum eine geschützte Atmosphäre aufrecht zu erhalten, in der jeder körperlich und emotional sicher ist. Falls also ein Kind eine seiner Erfahrungen im Spiel zu verarbeiten versucht und sein Mitspieler darunter zu leiden hat, halte ich es für meine Aufgabe in dieses Spiel einzugreifen und das mitspielende Kind zu schützen. Trotzdem urteile ich nicht über das Spiel des Kindes und versuche es nicht zu bewerten, sondern biete ihm stattdessen an mit mir zu spielen und sein Thema zu bearbeiten. Wenn Kinder diesen Raum bekommen, dass sich ihr Innerstes im Spiel zeigen darf, da es nicht bewertet oder verurteilt wird („Warum spielst du immer so gewaltvoll? Das ist aber nicht schön, dass der kleine Bruder immer leidet! Etc.“), ist der Grundstein für heilsames Spielen gelegt.

Die folgenden Punkte sind angelehnt an das Buch von Peter A. Levine und Maggie Kline „Kinder vor seelischen Verletzungen schützen, was sicherlich auch insgesamt zu empfehlen ist, wenn man sich mit dem Thema traumatische Erfahrungen bei Kindern intensiver auseinandersetzen möchte.

1.Das Kind bestimmt das Spieltempo

Grade wenn sich Kinder mit für sie herausfordernden Ereignissen auseinandersetzen (Wichtig: das müssen nicht die Ereignisse sein, die unserer Bewertung nach herausfordernd gewesen sind, sondern dies kann auch ein Erleben sein, welchem wir kaum Bedeutung beigemessen haben, unser Kind dies aber völlig anders erlebt hat!), sollten sie diejenigen sein, die das Tempo vorgeben. Kinder zeigen es deutlich, ob sie bereit sind, bestimmte Dinge in Spiel zu integrieren oder sie dies noch überfordert. Hier gilt es die eigene Absichtslosigkeit zu wahren und das Kind nicht „irgendwo hin bringen“ zu wollen. Bei einem heilsamen Spiel wird das Kind eben nicht fremdbestimmt, sondern bestimmt dieses Spiel selbst. Als Erwachsene kann ich Angebote machen und bereit sein – mehr aber auch nicht.

Bsp.: In dem Spiel mit der Tochter meiner Freundin machte ich zu Beginn als ihre Kollegin schon den Vorschlag, ob sie bei ihr denn auch die Blutwerte überprüfen möchte. Darauf ging sie zunächst nicht ein und ich ließ meinen Vorschlag fallen. Erstmal gab es Spritzen und immer wieder Spritzen. Schließlich beschloss sie dann doch Blut abzunehmen und nach wieder Medizin und Spritzen, sollten die Blutwerte analysiert werden, um festzustellen wie lange sie noch im Krankenhaus verweilen muss.

2.Keine Überforderung

Kinder zeigen deutlich, inwieweit sie sich dem belastenden Thema im Spiel nähern wollen. Zeigt das Kind im Spiel Angst oder meidet gewisse Themenbereiche, ist dies zu respektieren. Verspürt das Kind länger als einen kurzen Moment im „Nach“-Spielen“ Angst und Schrecken, ist ihm das keine Hilfe beim Verarbeiten seines Erlebens. Ein Kind meidet von sich aus überwältigende Gefühle und sollte daher im Spiel auch stets die Leitung übernehmen dürfen. Gleichzeitig zeigen Kinder auch deutlich, wenn sie bereit sind für den nächsten Schritt. Oft bedarf es hier einiger Wiederholungen, in denen das Kind sich als selbstwirksam und handlungsfähig erlebt, bevor es sich dem nächsten Element zuwendet.

Bsp.: Wie in dem obigen Beispiel bedurfte es immer wieder der Spritzen, die mit Wasser aufgezogen und ihrer Mutter dann gespritzt wurden. Die Spritzen bekam sie an die unterschiedlichsten Stellen. Dieses Spiel wiederholte die Tochter unzählige Male, bis sie schließlich entschied sich dem nächsten Element zuzuwenden.

3.Heilsames Spiel ist Wiederholungsspiel

Bestimmte Themen wollen von den Kindern immer wieder durchgespielt werden und gleichen einem wachsenden Prozess. Es ist nicht alles an einem Tag zu erledigen! Auch hier können wir von den Kindern lernen, die bereit sind einen Weg zu gehen und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Der momentane Schritt ist das Ziel. Auf diesem Weg dürfen wir sie begleiten und uns von unserem Drang nach Ergebnissen, Effektivität und Zielen lösen (zumindest, falls wir diesen Drang verspüren). Die Langsamkeit und Wiederholung des Spiels gibt dem Kind die Chance sein Erlebnis innerlich neu zu strukturieren. Falls ein Erlebnis nicht vollständig gelöst ist, wird das Kind bei nächster Gelegenheit das Spiel in der entsprechenden Phase wieder aufnehmen.

Bsp.: Nachdem die Tochter meiner Freundin gegen Abend ihre Medizin einnehmen musste, drängte sie uns, dass wir das Spiel erneut aufnehmen sollten.

4.Zuversicht und Vertrauen in die kindlichen Fähigkeiten

Ein Kind möchte seine Erfahrungen instinktiv verarbeiten und sucht nach Möglichkeiten dazu und Menschen, die mit ihm diesen Weg gehen. Daher sind die Begegnungen mit Menschen, die darauf vertrauen, dass alles wieder „in Ordnung“ kommen kann, essentiell für seinen Heilungsweg. Menschen die erkennen, was im Inneren des Kindes vor sich geht, womit es belastet ist und seine Versuche wahrnehmen (und die sind nicht immer sehr salonfähig und oft auch wirklich herausfordernd für die gesamte Familie) sich davon zu befreien, bieten sozusagen den Raum, wo Heilung Schritt für Schritt oder besser Spiel für Spiel geschehen kann.

Dieses Thema ist sehr komplex und sicherlich bedürfen auch einige Erfahrungen, grade wenn sie für das Kind traumatisch waren, einer therapeutischen Unterstützung. Trotzdem glaube ich, dass unsere Kinder viele kleine alltägliche Frustrationen oder Erlebnisse, die noch in ihnen nachhallen, versuchen im Spiel zu verarbeiten. Ihr Spielen wertzuschätzen, es als Form der inneren Wiederherstellung zu erkennen und sie bei Bedarf dabei zu unterstützen bzw. sich zur Verfügung zu stellen, kann enorm viel Erleichterung bringen. Auf diesem Weg kann vermutlich manche Not des Kindes, die sich sonst in sogenannte „problematischem“ Verhalten äußert, gelindert oder sogar aufgelöst werden. Zudem stärkt es die Bindung zwischen Eltern und Kind sowie die kindliche Selbstwahrnehmung und Resilienz.

Soviel mal für heute zu dem Geheimnis des heilsamen, kindlichen Spiels. Wir hoffen es weitet ein wenig den Blick und lässt uns nochmal anders auf das Spiel unserer Kinder blicken.

Zu Beginn haben wir beschrieben, dass auch wir Erwachsenen scheinbar unbewusst immer wieder Situationen, Themen oder Beziehungen erleben, die das Potential haben uns ein Stück zu heilen. Mit anderen Worten begegnen wir stets unseren Triggern, die uns an vergangenen Schmerz oder schmerzhafte Erfahrungen erinnern. Doch spielen wir uns in der Regel nicht mehr gesund – schade eigentlich ;-). Dennoch wohnt in uns dieselbe Sehnsucht nach Heilung und Wiederherstellung, die uns scheinbar nicht ruhen lässt und uns regelmäßig in ebendiese Parallelerfahrungen führt. Wie wir dadurch neue, heilsame Erfahrungen machen können, darum soll es in einem unserer nächsten Artikel gehen…

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