In meinem Element

Gestern waren Julia und ich mit den Kindern draußen unterwegs. Nachdem wir ein wenig übergestreift sind, kamen wir zu einem Spielplatz und beschlossen dort noch etwas zu verweilen. Wir setzten uns auf eine Bank als uns die Kinder plötzlich zur Straße riefen, wo sie etwas, oder besser gesagt jemanden, entdeckt hatten. Wir gingen neugierig zu ihnen, um zu sehen, was sie so zum Staunen brachte. Da sahen wir es auch. Ein Mann kam die Straße entlang. Er führte einen Hütehund bei sich, trug Hut und Umhang, sowie sehr wetterfeste Kleidung und stützte sich beim Laufen auf seinen Schäferstab. Ja, es war unverkennbar, dass hier ein Mann, der wohl aus vollem Herzen Schäfer zu sein schien, mitten auf der Straße entlanglief. Uns alle mutete die Situation etwas komisch an – ja, irgendwie war das Bild unstimmig und wirkte merkwürdig, fast ein wenig aberwitzig auf uns. Und das lag wohl daran, dass dieser Schäfer mit seinem Hütehund irgendwie „am falschen Ort“ zu sein schien. Hier mitten im Dorf, ohne ein einziges Schaf, wirkte er irgendwie fehl am Platz.

Wir staunten ihm noch einen Moment hinterher, bis die Kinder schließlich wieder zu ihrem Spiel zurückkehrten. Doch mich lies dieser Schäfer noch nicht los und mir kam der Gedanke, dass es wohl vielen Menschen so gehen mag wie diesem Mann. Wie viele von uns, sind mitten in einem Dorf auf einer Straße ohne ein einziges Schaf unterwegs. Fühlen sich irgendwie merkwürdig, nicht ganz stimmig, anders, fehl an dem Platz, an dem sie sich grade befinden. Ich vermute, dass der Schäfer unterwegs zu seinen Schafen war, wo er dann ganz in seinem Element sein kann. Wo alles stimmig wird und Sinn ergibt. Wäre das nicht traumhaft, wenn wir Menschen das auch erleben würden. Das entdecken, was genau zu uns passt? Wo wir in unserem Element sind, alles plötzlich Sinn macht?

Abends unterhielt ich mich mit einer befreundeten Lehrerin darüber, was sie in ihrem Leben gerne tun möchte. Unter anderem erzählte sie, dass sie ihren Schülern gerne etwas „fürs Leben“ mitgeben will. Wir überlegten, was das für sie heißt und mir viel wieder der Schäfer ein. Ich erzählte ihr von unserem Erlebnis. Wie viele Schüler mögen da wohl im Klassenzimmer sitzen, die sich fehl am Platz fühlen. Und welch eine ehrenvolle Aufgabe – vielleicht sogar eher eine Berufung – diesen Kindern Erfahrungen zu ermöglichen, wo sie sich genau am richtigen Ort fühlen. Wo sie ihr Element finden – der Ort, an dem sich ihre Leidenschaft und ihre Fähigkeiten begegnen. Sicherlich ein Traum, der in unserem aktuellen Schulsystem nur schwer zu realisieren ist. Aber wäre es nicht wundervoll, wenn wir in der Schule das entdecken würden, wo es uns vorkommt, als seien wir genau dafür gemacht worden?

Ich lese grade das Buch von Ken Robinson „In meinem Element“. Darin bin ich auf eine Geschichte gestoßen, die mich berührt hat und die ich an dieser Stelle sehr passend finde. Daher will ich sie heute mit euch teilen:

„Gillian war zwar erst acht Jahre alt, aber ihre Zukunft stand bereits auf der Kippe. Ihre schulischen Leistungen waren eine Katastrophe, zumindest nach der Meinung ihrer Lehrer. Hausaufgaben lieferte sie zu spät ab, ihre Handschrift war schrecklich und Tests schaffte sie mit Ach und Krach. Aber nicht nur das, sie störte auch den gesamten Unterricht, indem sie mal geräuschvoll herumzappelte, mal aus dem Fenster starrte, so dass der Lehrer den Unterricht unterbrechen musste, um sie zur Ordnung zu rufen, und dann wieder irgendetwas anderes anstellte, das die Kinder um sie herum störte. Das alles machte zwar Gillian nicht großartig etwas aus – sie war es gewohnt, dass Autoritätspersonen sie korrigierten -, wohl aber der Schule. Die Situation spitzte sich zu, als die Schule ihren Eltern einen Brief schrieb.

Die Schulleitung war der Ansicht, Gillian hätte irgendeine Lernbehinderung und wäre in der Schule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen vielleicht besser aufgehoben. All das fand in den 1930er Jahren statt. Ich glaube, heute würde eine Schulleitung sagen, Gillian hätte eine Aufmerksamkeitsdefizit – Hyperaktivitätsstörung (ADHS), und sie mit Ritalin oder Ähnlichem behandeln lassen. Aber damals war die ADHS-Epidemie noch nicht erfunden. Sie stand als Pathologie noch nicht zur Verfügung. Die Leute wussten nicht, dass sie so etwas haben konnten, und mussten ohne diesen Begriff zurechtkommen. Gillans Eltern bereitete der Brief von der Schule große Sorgen, und sie wurden sofort aktiv. Gillians Mutter zog ihrer Tochter die besten Kleider und Schuhe an, band ihre Haare zu Zöpfen und brachte sie zu einem Psychologen, um dessen Urteil zu hören. Sie befürchtete das Schlimmste.

Gillian erzählte mir, sie würde sich daran erinnern, dass sie in einem großen, eichenvertäfelten Raum geführt wurde, in dem in Leder gebundene Bücher auf den Regalen standen. Neben einem riesigen Schreibtisch stand ein imposanter Mann im Tweetjacket. Er führte Gillian ans andere Ende des Raums und ließ sie auf einem ausladenden Ledersofa Platz nehmen. Gillian kam mit ihren Füßen nicht ganz auf den Fußboden, und die Umgebung schüchterte sie ein. Sie hatte Angst, einen schlechten Eindruck zu machen und setzte sich auf ihre Hände, damit sie nicht herumzappelte.

Der Psychologe ging zu seinem Schreibtisch zurück, und in den nächsten zwanzig Minuten fragte er Gillians Mutter nach den Schwierigkeiten, die Gillian in der Schule hatte und den Problemen, die sie nach Meinung der Schule machte. Obwohl er Gillian nicht direkt befragte, beobachtete er sie die ganze Zeit über aufmerksam. Gillian fühlte sich deshalb extrem unbehaglich, und ihr schwirrte der Kopf. Obwohl sie noch ein Kind war, wusste sie, dass dieser Mann eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen würde. Sie wusste, was es bedeutet, eine „Sonderschule“ zu besuchen, und das wollte sie keinesfalls. Sie hatte nicht das Gefühl, irgendwelche echten Probleme zu haben, aber alle anderen schienen dieser Meinung zu sein. In Anbetracht der Art, wie die Mutter die Fragen beantwortete, war es möglich, dass auch sie so dachte.

Vielleicht, dachte Gillian, haben sie ja Recht.

Schließlich hörten Gillians Mutter und der Psychologe auf zu reden. Der Mann stand von seinem Schreibtisch auf, ging zum Sofa, und setzte sich neben das kleine Mädchen. „Gillian, du warst sehr geduldig, und dafür danke ich dir“, sagte er. „Aber ich fürchte, du musst dich noch ein bisschen länger gedulden. Ich muss jetzt mit deiner Mutter allein reden. Wir gehen ein paar Minuten nach draußen. Hab keine Angst; wir sind nicht lange weg.“

Gillian nickte ängstlich, und die zwei Erwachsenen ließen sie allein auf dem Sofa sitzen. Aber bevor der Psychologe das Zimmer verließ, lehnte er sich über den Schreibtisch und schaltete das Radio ein.

Sobald sie draußen auf dem Flur waren, sagte der Arzt zu Gillians Mutter: „Bitten bleiben Sie einen Augenblick hier stehen und beobachten Sie, was Ihre Tochter tut.“ Es gab ein Fenster in den Raum, und die beiden stellten sich seitlich von ihm hin, so dass Gillian sie nicht sehen konnte. Fast sofort sprang Gillian auf und bewegte sich zu der Musik im Raum umher. Die zwei Erwachsenen standen still da und beobachteten sie ein paar Minuten, sprachlos angesichts von so viel Anmut. Jedem wäre aufgefallen, dass Gillians Bewegungen etwas ganz Natürliches hatten und aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schienen. Auch ihr seliger Gesichtsausdruck war unübersehbar.

Schließlich wandte der Psychologe sich an Gillians Mutter und sagte: „Wissen Sie, Mrs. Lynne, Gillian ist nicht krank. Sie ist eine Tänzerin. Melden Sie sie bei einer Ballettschule an.“

Ich fragte Gillian, was dann passiert sei. Sie sagte, ihre Mutter hätte genau das getan, was der Psychologe vorgeschlagen hatte. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie herrlich es war“, erzählte sie mir. „Ich ging in diesen Raum hinein, und da waren lauter Menschen wie ich, die nicht stillsitzen konnten. Menschen, die sich bewegen mussten, um denken zu können.“

Gillian besuchte die Ballettschule jeden Tag, und täglich übte sie zu Hause. Schließlich tanzte sie an der Schule des Royal Ballett in London vor und wurde angenommen. Später gehörte sie zu dem Ensemble des Royal Ballett an, wurde Primaballerina und gab Vorstellungen auf der ganzen Welt. Als dieser Abschnitt ihrer Karriere endete, gründetet sie ihre eigene Tanztruppe und produzierte eine Reihe von Shows, die in London und New York sehr erfolgreich waren. Schließlich lernte sie Andrew Lloyd Webber kennen und schuf mit ihm zusammen einige der erfolgreichsten Musicalproduktionen aller Zeiten, darunter Cats und Phantom der Oper.

Die kleine Gillian, das Mädchen mit der gefährdeten Zukunft, wurde von der Welt als Gillian Lynne umjubelt, eine der fähigsten Choreografinnen unserer Zeit und jemand, der Millionen Menschen Freude gebracht und Millionen Dollar verdient hat. All das konnte geschehen, weil jemand ihr tief in die Augen gesehen hatte – jemand, der Kinder wie sie schon gesehen hatte und ihre Zeichen zu lesen verstand. Ein anderer hätte ihr vielleicht Medikamente gegeben und ihr gesagt, sie solle sich beruhigen. Aber Gillian war kein Problemkind. Sie brauchte nicht auf eine Sonderschule zu gehen.

Sie brauchte nur zu sein, wer sie wirklich war.“[1]

Eine inspirierende Geschichte…

Wäre es nicht wundervoll, wenn wir selbst in unser Element finden würden und andere Menschen unterstützen das Ihre zu entdecken? Und haben manche unserer Probleme oder die unserer Kinder vielleicht etwas damit zu tun, dass wir uns nicht dort befinden, wo wir hingehören und nicht die Rahmenbedingungen haben, die wir brauchen, um unser Potential ausschöpfen zu können?

Was wäre wohl, wenn…???


[1] Ken Robinson, In meinem Element, 2010, Arkana, München, S.13-16

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